Gießener Anzeiger vom 2. März 2009

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Die Inszenierung nutzt ein Klettergerüst auf der Bühne, um zeitweise unbeschäftigte Darsteller sichtbar zu platzieren.
Bild: Schultz

Brutal gewürzte Geschichte

White Horse Theatre gastiert mit "Leaves of Glass" im Margarete-Bieber-Saal

Heiner Schultz/GIESSEN. Einen heftigen Theaterabend erlebten die Besucher am Freitag im Margarete-Bieber-Saal, wo das White Horse Theatre, man kann schon sagen, über die Bühne galoppierte. Die vier jungen Darsteller zeigten Philip Ridleys "Leaves of Glass" und verströmten reichlich von dem ansteckenden Elan, der diese reisende Truppe stets auszeichnet. Dass der Autor in diesem Fall keine Glanzleistung vollbracht hatte, war da nicht so schlimm.
An die neunzig Zuschauer hatten sich auf das authentische englische Theatererlebnis gefreut, da konnte sich der Gastgeber, das amerikanische Keller Theatre, freuen. Und man wurde nicht enttäuscht. Die mit kleinster Bühnenausstattung reisende Truppe machte in der kargen Umgebung des kleinen Hörsaals sämtliche Beschränkungen vergessen.
Das traf schon letztes Jahr zu, und auch heute sind die Figuren lebendig wie zum Anfassen - was nicht daran liegt, dass man zumindest in der ersten Reihe praktisch auf der Bühne sitzt.
Die Geschichte ist brutal gewürzt und so wüst zusammengeschrieben, dass man zwar mitkriegt, dass der erfolgreiche Ben (kraftvoll, intensiv: Ben Tippins) mit seiner Frau Debbie (glaubwürdig: Mirinda Heath) eine lausige Beziehung führt und irgendwie sauer auf seinen Bruder Barry ist (mitreißend: Josh Trask).
Dazu gibt Anyssa Baki eine köstlich klischeehafte Mama vom Orden der bekennenden Verdrängerinnen, die eine konfliktreiche Familienszene gern mit der Frage "Tea, anyone?" zu ersticken versucht. Während man sich also an der darstellerisch präzisen Arbeit der hochmotivierten Truppe erfreut, dämmern die famosen Handlungselemente herauf: Der alkoholkranke, künstlerisch hoch begabte Barry war stets Vaters Liebling, was den geschäftlich hoch erfolgreichen Steve immer tief schmerzte - weshalb er seinen kleinen Bruder einst zum Sex verkaufte. Wenn das keine Dramatik ist. Aber der Autor vermischt Handlung und Zeit so wild, dass natürlich einfach alles erzählt werden muss, wobei einem geschwätzige Dialoge aufstoßen. So nutzt die Inszenierung ein Klettergerüst auf der Bühne, um zeitweise unbeschäftigte Darsteller sichtbar zu platzieren und Bewegung in die Sache zu bringen. Gleichwohl lauschen die Zuschauer höchst konzentriert und spenden der ansprechenden Leistung der Truppe zu Recht größte Anerkennung.